Neue Regeln, alte Probleme
Die Krux mit der Rechtschreibung
Stand: 01.08.2017 05:06 Uhr
Mit ihr sollte alles einfacher werden. Seit zehn Jahren gilt die Rechtschreibreform in allen Schulen und sorgt weiter für Verwirrung. Wann gilt die alte und wann die neue Schreibweise? Selbst Rechtschreibprofis kommen da ins Schlingern.
Von Christin Jordan, SWR
Rad fahren oder radfahren? Eis laufen oder eislaufen? Am Mittwoch Abend oder Mittwochabend etwas unternehmen oder doch lieber heute Abend? Sind Sie fleißig oder wollen Sie das jemandem nur weismachen?
Wenn Sie spontan wissen, welches die richtige Schreibweise ist, sind Sie top mit nur einem p. Oder brauchen Sie einen Tipp mit zweien?
Auf den Tag zehn Jahre ist es her, dass die neue Rechtschreibung bundesweit in allen Schulen vollständig verbindlich wurde. Vollständig bedeutet: inklusive des allerletzten Teils der Rechtschreibreform, auf den sich der Rat für deutsche Rechtschreibung erst im Jahr zuvor geeinigt hatte.
Der lange Weg zu kürzeren Regeln
In den 1950er-Jahren hatte die Kultusministerkonferenz festgelegt, dass in Sachen Rechtschreibung der Duden die Leitlinie vorgibt. Erste Reformbemühungen zur Vereinfachung der Schreibweise und der Kommaregeln scheiterten am Protest der Öffentlichkeit.
Nach jahrelangem Tauziehen gab es 1994 eine Orthografie-Konferenz mit Vertretern aller deutschsprachigen Länder. Sie beschloss neue Regeln, mit denen die Rechtschreibung vereinfacht werden sollte. 1996 unterzeichneten Deutschland, die Schweiz und Österreich eine Absichtserklärung zur Neuregelung der Rechtschreibung. Am 1. August 1998 trat sie offiziell für alle Schulen und Behörden in Kraft. Ein Reinfall.
Nur wenige Jahre später forderte beispielsweise das deutsche PEN-Zentrum das Ende der Rechtschreibreform. 2004 ließ die Kultusministerkonferenz umstrittene Schreibvarianten wieder zu und beschloss, einen Rat für deutsche Rechtschreibung einzusetzen. Dieses Gremium schlug 2006 weitere Überarbeitungen vor, unter anderem ging es um strittige Bereiche wie die Getrennt- und Zusammenschreibung, Silbentrennung und Zeichensetzung.
Die ungeliebte Reform
Gestritten wird seit dem Inkrafttreten des Kompromisses weiterhin und nicht minder heftig. Von einem Kniefall vor der fortschreitenden Legasthenisierung der Gesellschaft sprach Anfang 2006 Josef Kraus, Direktor eines bayerischen Gymnasiums. Verleger, Schriftsteller, Künstler meldeten sich zu Wort, mit teils harscher Kritik: Der 2013 verstorbene als Literatur-Papst bekannte deutsch-polnische Autor und Publizist Marcel Reich-Ranicki nannte die Neuregelung eine Katastrophe.
Der Vorwurf: Die staatlich gewollte Vereinfachung der Schreibweise sei ohne Respekt für die gewachsene Sprache erfolgt; das ewige Hin und Her der Regelungen habe vor allem an Schulen ein heilloses Chaos hinterlassen. Selbst Lehrer wüssten oft nicht, was jetzt richtig sei. Und die Schüler erst recht nicht.
Viele Regeln, kein Durchblick
Tatsächlich hat sich die Zahl der Orthografiefehler in schriftlichen Arbeiten von Schülern laut einer Studie seit der Rechtschreibreform deutlich erhöht. Verfasser ist der Germanist Uwe Grund, seit jeher scharfer Kritiker der Reform. Besonders dramatisch in seinen Augen: Ausgerechnet in den drei wichtigsten Reformbereichen, nämlich der Getrennt- oder Zusammenschreibung, der Groß- und Kleinschreibung sowie der s/ss/ß- Schreibung werden die meisten Fehler gemacht.
Auch Josef Kraus, inzwischen Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hält an seiner Kritik fest: Texte seien schlechter schreib- und lesbar, die Ausdrucksvielfalt habe sich deutlich reduziert.
Keine Auswirkung auf Lesekompetenz
Weniger dramatisch sieht Simone Ehmig von der Stiftung Lesen in Mainz die Rechtschreibreformen: Man darf nicht meinen, dass man mit der Angleichung der Schreibweise an die Lautung (also Aussprache, etwa bei Stängel oder Selbstständig) die Ursachen von Problemen mit der Schreib- und Lesekompetenz beseitigt. Rechtschreibung muss Regeln folgen, und die müssen gelernt werden, egal ob nach alter oder neuer Regelung. Die Veränderung detaillierter Regelungen, sagt Ehmig, habe kaum Einfluss auf die schriftsprachlichen Kompetenzen insgesamt, die von anderen Faktoren abhängen, vor allem der familiären Prägung.
Die Reform der Reform der Reform
Unterdessen hat der Rat für Deutsche Rechtschreibung längst weitere Korrekturen an der reformierten Reform vorgenommen. Schreibweisen wie Mohär, Ketschup, Wandalismus oder Majonäse wurden gestrichen. Wieder erlaubt ist die Großschreibung etwa bei Goldene Hochzeit oder Technischer Direktor neben der Kleinschreibung.
Und der Bindestrich wird salonfähig: Der Co-Trainer ist ebenso zugelassen wie der Ex-Regierungschef. Größte, wenn vielleicht nicht wichtigste Neuerung: die Einführung des "ß" als Großbuchstabe.
tagesschau.de 1.8.2017
Ein erster Kommentar:Am 01. August 2017 um 06:32 von riewekooche
Schon das Wort Orthografie
erzeugt in mir, aus mehreren Gründen, ein Schaudern: Zum Einen hat man das ph gestrichen, das th aber beibehalten warum??? Zum Anderen wird ein ph anders ausgesprochen als ein f, das wiederum anders als ein v, das wiederum anders als ein w.
Auch ein Wort wie Stängel ist merkwürdig in meiner Umgebung spricht kein Mensch ein ä in Stängel, dessen Mittelvokal hat eine deutliche Verfärbung zum e hin daß die Schreibweise der Aussprache angepaßt werden sollte, ist hier wohl nicht der Grund.
Viele Worte wurden den Aussprachegewohnheiten derjenigen angepaßt, die die Rechtschreibreform durchgepeitscht haben ohne Rücksicht auf den Wortstamm, den man anhand der neuen Schreibweise nicht mehr erkennen kann. Andere wie der Stängel sind so umgeformt worden, daß der Wortstamm zum Vorschein kommen sollte.
Alles in allem eine undurchdachte Reform ohne Struktur und ohne jeden Sinn. Sie stiftete mehr Verwirrung, als sie Verbesserungen schaffte. Und tut dies immer noch. Und einer der letzten Kommentare:Am 01. August 2017 um 11:30 von nostradamus 2015
Spiegel des politischen Dilettantismus
Von Berufs wegen musste ich mich ab 1996 mit der Rechtschreibreform auseinandersetzen und beide Systeme abrufbereit parat haben.
So konnte ich die Respektlosigkeit vor der gewachsenen Sprache (teilweise Vulgarität), die Widersinnigkeit, die nicht zu Ende gedachten Änderungen bestimmter Regeln, den fehlenden Überblick der Neuerer, schlicht die ganze Stümperhaftigkeit der Reform im Detail studieren.
Damals überkam mich die Erkenntnis:
Wenn so dilettantisch wie die Rechtschreibreform bei uns auch die Politik im großen Stil gemacht wird, sodass es hinterher schlechter ist als vorher, dann Gute Nacht, Deutschland!. Die Kommentare zeigen das Elend der staatlich erpreßten „Reform“: Leser(in) 1 will traditionell schreiben, ist aber bereits von der grotesken Reform-Großschreibung infiziert und phonetisch unsicher. Leser(in) 2 erkennt die Minderwertigkeit der „Reform“, will aber nicht durch „daß“ auffallen.
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