Nerius' DDR-Stolz auf die „Reform“
MDR
Die neue deutsche Rechtschreibung eine Erfindung der DDR
Die große Rechtschreibreform von 1996 ist gewissermaßen eine DDR-Erfindung. Denn im Osten war man in Sachen Orthografie-Anpassung stets deutlich weiter gewesen als im Westen. Das musste 1979 sogar der SPIEGEL zugeben.
Wäre es nach den rechtschreibpäpsten der ddr gegangen, würden unsere zeitungen, schulaufätze, briefe und e-mails und selbstverständlich auch diese webseite heute alle so aussehen. Generationen von schülern hätten es der forschungsgruppe orthografie an der akademie der wissenschaften vermutlich gedankt, hätte sie sich mit ihrer gemäßigten kleinschreibung auch im westen durchgesetzt. Hat sie aber nicht.
Im Osten war man immer deutlich weiter
Und so schreiben wir als die letzten Europäer nach wie vor alle Substantive groß. Vielleicht wäre diese Reform auf breitere Zustimmung gestoßen, als die Rechtschreibreformen, die sich durchgesetzt haben. Aber immerhin, die große von 1996, die ist quasi auch eine DDR-Erfindung. Denn im Osten der Republik war man in Sachen Orthografie-Anpassung schon immer deutlich weiter als im Westen. Das gab 1979 sogar der Spiegel zu.
Im Interview mit dem MDR erinnert sich auch der damalige Leiter der DDR-Orthografie-Kommission Dieter Nerius: Dass die Orthografie überhaupt wieder auf eine wissenschaftliche Ebene gehoben wurde, das ist unser Verdienst. Vorher gab es Reform-Diskussion eigentlich nur unter Lehrern. Schon in den 70er Jahren hat sich Nerius mit seinem Team an der Akademie der Wissenschaften hingesetzt und Vorschläge ausgearbeitet, die dann zum Großteil in die große Reform 1996 eingeflossen sind. Welche Regeln, nach denen wir heute schreiben, nun genau aus dem Osten stammten, das könne man heute nicht mehr so genau sagen. Schließlich sei das am Ende ein Gemeinschaftswerk der vier deutschsprachigen Länder DDR, BRD, Österreich und Schweiz gewesen, sagt Nerius.
Republikflucht gab es nicht, musste man also nicht schreiben können
Dass man eine eigene, vom Rest des deutschen Sprachraums abweichende Rechtschreibung ernsthaft in Betracht gezogen hätte, solche Bestrebungen gab es aber nie. Es gab zwar zwei deutsche Duden, denn der ostdeutsche Duden-Verlag, das Bibliographische Institut Leipzig, wurde 1946 verstaatlicht und musste dann der Parteilinie folgen. Die schlug sich aber nicht in der Rechtschreibung nieder, sondern im Wortschatz. 400 Wörter weniger umfasste der Ost-Duden im Vergleich zu seinem westdeutschen Pendant, fand der Germanist Werner M. Hellmann heraus. Das Wort Weltreise suchte der Ossi wohl aus naheliegenden Gründen vergeblich – ebenso wie die staatlicherseits verhasste Vokabel Republikflucht. Allerdings mussten die Ossis auch raten, wie man Armenhaus oder Armenrecht schrieb. Diese Worte brauchte man in der 16. Auflage von 1967 nicht, schließlich seien bei uns Wort und Sache längst überwunden, verkündete der Hallenser Germanist Willi Steinberg. In der 20. Auflage war dann das Armenhaus zurückgekehrt. Aber das war dann auch schon 1991.
Im Osten wurde kreativer definiert
Große Unterschiede zwischen Ost- und West-Duden gab es auch in der Definition von Wörtern. Während „Kosmopolitismus“ im West-Duden schon immer schlicht und einfach mit Weltbürgertum umschrieben wurde, machten sich die Sprachpäpste im Osten weitreichende Gedanken, wie dieser Begriff zu definieren sei. Ergebnis 1951: Als Weltbürgertum getarnte Ideologie der… Versklavung der Nationen zugunsten des Machtanspruchs des anglo-amerikanischen Imperialismus. Ergebnis 1967: Weltbürgertum, unwissenschaftliche Ideologie der imperialistischen Bourgeoisie.
Einen Unterschied in der Orthografie gab es dann aber doch. West-Berlin wurde je nach Republikteil mit oder ohne Bindestrich geschrieben. Denn auch das folgte der Parteilinie. Es gab schließlich kein geteiltes Berlin, sondern nur eine DDR-Hauptstadt und eben eine andere Stadt, Westberlin.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV auch in MDR um 4 12.04.2016 | 16.00 Uhr
Zuletzt aktualisiert: 07. August 2017, 11:01
mdr.de 7.8.2017
Auch in der DDR war Vordenker der „Reform“ der NS-Erziehungsminister Bernhard Rust! Siehe auch Spiegel 25.7.2005.– Am 6.10.1999 konnte ich in Schwerin noch den DDR-Prof. Nerius erleben. Dazu hat auch Th. Ickler eineinhalb Jahre später etwas gesagt.
P.S. Nerius schreibt, soweit ich gesehen habe, aber immer unbanausisch „Orthographie“.
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