Kompetenz
Über diesen Beitrag von Herrn Reimers bin ich sehr froh, denn er geht in die Denkrichtung, die meines Erachtens eine gewiß nicht geringere Bedeutung für das Phänomen »Rechtschreibreform« hat als alle die staatsbürgerlich-moralischen Mängel, die man ja auch zu Recht beklagt. Wäre unsere Kultur nicht in einem so desolaten Zustand, hätte sie nicht weitgehend die dem Kultur-Begriff wie selbstverständlich innewohnenden Wurzeln zur Natur weitgehend verloren, hätte die Reform überhaupt keine Chance gehabt, sich überhaupt auch nur als Entwurf ernsthaft Gehör zu verschaffen.
Daß es anders gekommen ist, paßt u.a. zu dem Komplex, den Herr Reimers mit dem neumodischen »Kompetenz«-Begriff aufgegriffen hat. Alle möglichen Erscheinungen, die es schon immer gegeben hat und mit denen man zu allen Zeiten irgendwie und keineswegs immer erfolglos umgegangen ist, wie etwa Lernschwäche, Erziehungsprobleme, Beziehungsprobleme, werden zu neu erkannten Kompetenzfeldern erklärt, auf die man auch schon die wissenschaftlich erarbeiteten Lösungskonzepte vorlegt.
Die »sexuelle Kompetenz« ist ein schönes Beispiel dafür. Auch hier wird, wie Kerstin Decker treffend in anderem Zusammenhang sagt, ein Abstand gelegt, ein Bewußtseinsabstand. Es geht aber auch hier um etwas, »was wir nicht selbst gemacht haben« und eben auch nicht selbst machen können, mit derlei wissenschaftlichen Konzepten jedenfalls nicht, allenfalls mit einer »Erziehung des Herzens«, aber das ist nichts für die Wissenschaft.
Man könnte in diesem Zusammenhang auch hinweisen auf die vielen Glanzleistungen unserer Wirtschafts- und Betriebswissenschaftler, die in immer kürzeren Abständen immer neue Konzepte zur Optimierung des Betriebs- oder Volkswirtschafts-Ergebnisses nicht nur produzieren, sondern diese auch für riesige Summen an gläubig zu ihnen hinaufblickende Konzernmanager verkaufen. Die durchgängige Wirkungslosigkeit solcher Konzepte die Weltwirtschaft steckt trotz jahrzehntelanger Bemühungen dieser Intelligentsia angeblich in einer tiefen Rezession, die Weltfirmen von vor zehn oder zwanzig Jahren sind weitgehend pleite oder von Konkurrenten aufgefressen hat den »Consultern« nichts von ihrem Charisma nehmen können, auch offenkundigster von ihnen verbratener Unsinn nicht, wie etwa die gruppendynamischen Psychotrainings, das Arbeits-Du oder der »Humor-Berater«, den sich Daimler-Chrysler neuerdings leistet, weil die Firmenleitung sich davon überzeugen ließ, daß die Humorkompetenz wichtig ist für das Wohlbefinden des Arbeitnehmers in seinem Team, und er unter gutgelaunten Kollegen und Vorgesetzten weniger oft krank oder depressiv wird, ergo mehr »Proffit« (so spricht ein Insider das aus) bringt, als wenn der pure Terror am Arbeitsplatz herrscht. Ich habe ein Foto von einem solchen Humortrainig gesehen. Da steht der Humortrainee, von andächtigen SeminaristInnen umgeben, vor einem Flipboard, auf dem nebeneinander zwei Grinsemännchen gemalt sind, einer mit Mundwinkeln nach oben, der andere hat sie nach unten. Und der Humortrainee zeigt mit dem Zeigestab auf richtig! den mit den Mundwinkeln nach oben. So lernen die SeminaristInnen, was Humor ist, wie man das macht und was bei Humor passiert: die Mundwinkel biegen sich nach oben.
Daimler-Chrysler gibt Riesensummen aus für eine Binsenweisheit, die eigentlich jeder kennt ohne wissenschaftlichen Hintergrund etwa vom Kindergarten. Zur vergnügten Schwester gingen die Kinder lieber, waren auch umgänglicher und spielten phantasievoller als bei der strengen.
Schade, daß Voltaire nicht mehr am Leben ist. Er hätte diese als wissenschaftliche Erkenntnis aufgemotzte Dummheit unserer »Informationsgesellschaft«, die hauptsächlich Nichtigkeiten als News und Infos herumreicht, herrlich aufs Korn nehmen und darstellen können.
Aber auch unsere Philosophen und Humoristen sind zu Schachfiguren des Marktes degeneriert, schade.
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Walter Lachenmann
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