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Forum > Rechtschreibreform und Gruppendynamik
Rechtschreibreform und Gruppendynamik
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Claudia Ludwig
25.04.2002 10.05
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Danke, Herr Metes für Ihre Differenzierung – Sie haben recht. Ich habe bei meinem Brief eher an die Entscheidungsträger gedacht, die die „Reform“ in ihren Verlagen, Firmen, Unternehmen usw. eingeführt haben. Sie sind es doch, die Entscheidungs- und „Befehlsgewalt“ haben. Nicht einer von ihnen hatte die Chuzpe oder den Willen zu sagen „Nein, das mache ich mit meinem Unternehmen nicht mit.“ Warum nicht? Aber dazu hat Herr Lachenmann ja schon eine Erklärung abgegeben.

Zu allem Richtigen, das hier zu lesen ist, kommt für mich noch eines hinzu – und damit unterstütze ich, was Herr Lachenmann geschrieben hat: Das gewachsene, sensible Ganze der Schriftsprache, das größtmögliche Einheitlichkeit erreicht hatte, ist durch die „Rechtschreibreform“ einem Zerstörungsprozeß ausgesetzt worden, dessen Ausmaß dramatisch ist. Das aber erschließt sich nur dem, der sich genauer mit diesem Thema beschäftigt – und das tut eben keiner.

Meine Prognose: Kinder werden nicht mehr richtig schreiben lernen, höchstens auf Sonderschul-Niveau, da die Verunsicherung durch die Alternativschreibungen verhindert, daß sich Kinder Schreibweisen einprägen können und richtig wiedergeben. Auch ein Sprachgefühl kann sich nicht mehr entwickeln, da Kinder gezwungen werden, gegen ihres anzuschreiben.

Ich wiederhole mich: die Rechtschreibreform muß gestoppt werden – und ich als begeisterte Verfechterin der klassischen deutschen Rechtschreibung setze mich vehement dafür ein.




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Claudia Ludwig

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Walter Lachenmann
25.04.2002 09.27
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Kompetenz

Über diesen Beitrag von Herrn Reimers bin ich sehr froh, denn er geht in die Denkrichtung, die meines Erachtens eine gewiß nicht geringere Bedeutung für das Phänomen »Rechtschreibreform« hat als alle die staatsbürgerlich-moralischen Mängel, die man ja auch zu Recht beklagt. Wäre unsere Kultur nicht in einem so desolaten Zustand, hätte sie nicht weitgehend die dem Kultur-Begriff wie selbstverständlich innewohnenden Wurzeln zur Natur weitgehend verloren, hätte die Reform überhaupt keine Chance gehabt, sich überhaupt auch nur als Entwurf ernsthaft Gehör zu verschaffen.

Daß es anders gekommen ist, paßt u.a. zu dem Komplex, den Herr Reimers mit dem neumodischen »Kompetenz«-Begriff aufgegriffen hat. Alle möglichen Erscheinungen, die es schon immer gegeben hat und mit denen man zu allen Zeiten irgendwie und keineswegs immer erfolglos umgegangen ist, wie etwa Lernschwäche, Erziehungsprobleme, Beziehungsprobleme, werden zu neu erkannten Kompetenzfeldern erklärt, auf die man auch schon die wissenschaftlich erarbeiteten Lösungskonzepte vorlegt.

Die »sexuelle Kompetenz« ist ein schönes Beispiel dafür. Auch hier wird, wie Kerstin Decker treffend in anderem Zusammenhang sagt, ein Abstand gelegt, ein Bewußtseinsabstand. Es geht aber auch hier um etwas, »was wir nicht selbst gemacht haben« und eben auch nicht selbst machen können, mit derlei wissenschaftlichen Konzepten jedenfalls nicht, allenfalls mit einer »Erziehung des Herzens«, aber das ist nichts für die Wissenschaft.

Man könnte in diesem Zusammenhang auch hinweisen auf die vielen Glanzleistungen unserer Wirtschafts- und Betriebswissenschaftler, die in immer kürzeren Abständen immer neue Konzepte zur Optimierung des Betriebs- oder Volkswirtschafts-Ergebnisses nicht nur produzieren, sondern diese auch für riesige Summen an gläubig zu ihnen hinaufblickende Konzernmanager verkaufen. Die durchgängige Wirkungslosigkeit solcher Konzepte – die Weltwirtschaft steckt trotz jahrzehntelanger Bemühungen dieser Intelligentsia angeblich in einer tiefen Rezession, die Weltfirmen von vor zehn oder zwanzig Jahren sind weitgehend pleite oder von Konkurrenten aufgefressen – hat den »Consultern« nichts von ihrem Charisma nehmen können, auch offenkundigster von ihnen verbratener Unsinn nicht, wie etwa die gruppendynamischen Psychotrainings, das Arbeits-Du oder der »Humor-Berater«, den sich Daimler-Chrysler neuerdings leistet, weil die Firmenleitung sich davon überzeugen ließ, daß die Humorkompetenz wichtig ist für das Wohlbefinden des Arbeitnehmers in seinem Team, und er unter gutgelaunten Kollegen und Vorgesetzten weniger oft krank oder depressiv wird, ergo mehr »Proffit« (so spricht ein Insider das aus) bringt, als wenn der pure Terror am Arbeitsplatz herrscht. Ich habe ein Foto von einem solchen Humortrainig gesehen. Da steht der Humortrainee, von andächtigen SeminaristInnen umgeben, vor einem Flipboard, auf dem nebeneinander zwei Grinsemännchen gemalt sind, einer mit Mundwinkeln nach oben, der andere hat sie nach unten. Und der Humortrainee zeigt mit dem Zeigestab auf – richtig! – den mit den Mundwinkeln nach oben. So lernen die SeminaristInnen, was Humor ist, wie man das macht und was bei Humor passiert: die Mundwinkel biegen sich nach oben.

Daimler-Chrysler gibt Riesensummen aus für eine Binsenweisheit, die eigentlich jeder kennt – ohne wissenschaftlichen Hintergrund – etwa vom Kindergarten. Zur vergnügten Schwester gingen die Kinder lieber, waren auch umgänglicher und spielten phantasievoller als bei der strengen.

Schade, daß Voltaire nicht mehr am Leben ist. Er hätte diese als wissenschaftliche Erkenntnis aufgemotzte Dummheit unserer »Informationsgesellschaft«, die hauptsächlich Nichtigkeiten als News und Infos herumreicht, herrlich aufs Korn nehmen und darstellen können.

Aber auch unsere Philosophen und Humoristen sind zu Schachfiguren des Marktes degeneriert, schade.


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Walter Lachenmann

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Martin Reimers
24.04.2002 23.15
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Sprachliche Sensibilität und Sprachkompetenz

Natürlich ist die Sensibilität gegenüber der Sprache, von der Herr Lachenmann schreibt, ein zentraler Punkt in der ganzen Auseinandersetzung um die RSR. Es sagt einiges über unsere Sprachkultur aus, wenn die in der ZK versammelten Ideologen, Stümper und Anästhesisten des Sprachgefühls so lange Zeit freie Hand haben.

Es geht hier um weit mehr als um die Bereiche, die der stark verengende und inflationär gebrauchte Begriff der Sprachkompetenz abdeckt. Kompetenz hat etwas distanziert-leidenschaftsloses. (Weshalb sonst hat sich kürzlich das Magazin FOCUS so lächerlich gemacht mit seinem Gerede über die „sexuelle Kompetenz“?) Der Schaden, den die Reform angerichtet hat, ist in meinen Augen am größten in den Sphären der Sprache, die nicht in jeder rationalen Auseinandersetzung zu vermitteln sind (für diese bleiben uns immer noch genug sprachpraktische Argumente).

Eigentlich ist es schwer denkbar, daß ein Experiment, das sozusagen das grammatische Knochengerüst der Sprache erschüttert, nicht in viel höherem Maße das zarte Fleisch der Semantik und des Sprachstils in Mitleidenschaft ziehen muß. Hierzu paßt vielleicht ein Artikel von Kerstin Decker aus der taz vom 28. 3.2001, der (in Auszügen) auch im Zeitungsarchiv steht. Was diese wunderbare Frau schreibt, gehört mit zu dem Besten, was ich jemals über die Rechtschreibreform gelesen habe. Ich zitiere ihn deshalb hier noch einmal:


„Es geht um das an unserer Identität, was wir nicht selber gemacht haben und was uns doch ausmacht. Nehmen wir nur das Denken.
Ohne ein Moment des Irrationalen, des nicht vollends Rationalisierbaren, mit dem es umgeht, wird es nicht zum Denken. Was für ein hoch konservatives Thema! Aber politisch ist es nicht. Jedenfalls erst viel, viel später. Oder die Sprache. Die Sprache ist ja nun das Stockkonservativste überhaupt. Wir benutzen tatsächlich noch immer dieselbe wie die Nationalsozialisten und größten Unrechtsstaatler aller deutschen Zeiten? Haben wir uns das eigentlich gut überlegt, so was tagtäglich in den Mund zu nehmen? Und angefüllt ist sie mit irrationalen Beständen.

Sprache ist überhaupt bald das Einzige, was wir noch nicht selbst gemacht haben. Nein, stimmt nicht ganz. Schließlich gab es die Rechtschreibreform. Ich habe lange nach einer Erklärung für diesen Akt der Barbarei gesucht, aber jetzt ist alles klar. Ihre Schöpfer wollten einen Abstand zwischen uns und die Sprache legen. Sozusagen einen Bewusstseinsabstand.

Betrachten wir nur die Wortgruppe „hier zu Lande“. „Hierzulande“ dagegen – spüren wir da nicht gleich so einen unguten Unterton von Selbstverständlichkeit, von Fraglosigkeit, ja gar von Blut-und-Boden? Etwas ganz anderes ist dagegen „hier zu Lande“. Es wirkt bewusstseinserweiternd. Du denkst: zu Lande also. Demnach nicht zu Wasser. Und schon gar nicht in der Luft. Das Land ist zurückgeführt auf seine ursprüngliche weltanschauungsneutrale terrestrisch-physikalische Faktizität. Kein revanchistischer Unterton. Das ist ein Beispiel erfolgreicher Bewältigung unserer sprachlichen Vergangenheit.

Sie hat nur einen Nachteil. Jedes Mal, wenn ich „hier zu Lande“ lese, ist der übrige Teil des Satzes weg. Die wortgruppeninterne Vergangenheitsbewältigung dauert einfach zu lange. Darum lese ich eigentlich nur noch Zeitungen, die nicht „hier zu Lande“ schreiben. Die Zeit zum Beispiel. Oder lieber doch nicht. Jedenfalls nicht diese Woche.“


Das sind freilich schon sehr poetische Betrachtungen. Wer davon nichts hören will, mit dem kann man nicht darüber streiten.



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Martin Reimers

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Walter Lachenmann
24.04.2002 19.13
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Die Grenzlinien sind fließend und sehr breit

Wie Elke Philburn dargestellt hat, waren von Anfang an auch Leute mit einer eher engen Beziehung zur Sprache bereit, die Reform als eine begrüßenswerte Neuerung zu betrachten. In dem von ihr beschriebenen Fall waren es Lehrer.
Ich stelle auch unter meinen Kollegen aus dem Verlagswesen, ohne es wirklich nachvollziehen zu können, nach wie vor eine wohlwollende oder allenfalls abwiegelnde Einstellung zur Reformschreibung fest. Das ist nicht Feigheit oder mangelnde Zivilcourage, eher ein Unvermögen, die Tragweite einzuschätzen, ein Mangel an Sensibilität für das Kulturgut Sprache. Das ist auch schlimm, aber die Kritik muß da anders lauten als Untertanengeist, Geldgier usw..
Am meisten verblüffen mich solche beschwichtigenden Töne bei Kollegen, die in ihrer Praxis bei den alten Regeln geblieben sind. Da steckt zum Teil gar keine Überzeugung im Zusammenhang mit der Sprache dahinter, eher eine pragmatische Spekulation über das vermutliche Verfallsdatum der ungefestigten Regeln. Besonders typisch hierfür ist der Börsenverein für den Deutschen Buchhandel. Alles Archiv-Relevante ist in der herkömmlichen Orthographie, alle tagesaktuellen Sachen in einer Orthographie, die die typischen Kennzeichen der Reform aufweist aber die absurdesten Dinge vermeidet.
Dies ist für einen breiten Bereich unserer schreibenden und lesenden Mitmenschen einfach kein Feld, das einer streitbaren Diskussion wert erscheint. Jegliche Moralkritik geht hier daneben. Die Kritik an mangelndem Kulturbewußtsein träfe eher, aber so wird ja nur im Nebenbereich argumentiert.

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Walter Lachenmann

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Jörg Metes
24.04.2002 15.54
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Zwei Gruppen, zwei Dynamiken

Man muß zwei Gruppendynamiken unterscheiden. Es gibt die Gruppe derjenigen, die von der Reform als Handelnde betroffen sind (Leute, die schreiben, Schreiben unterrichten, Geschriebenes verlegen, verkaufen, verbreiten usw.), und es gibt die Sprachgemeinschaft insgesamt. Dem Zeitungsjournalisten, der die Reform widerstandslos umsetzt (oder es zuläßt, daß sie bei seinen Texten umgesetzt wird), kann man einen Vorwurf machen. Dem Zeitungsleser, der sich über die Reformschreibung ärgert, sie aber ohne weiteren Protest hinnimmt, kann man es nicht.

Es ist der Unterschied zwischen denen, die wider besseres Wissen handeln, und denen, die ihnen vertrauen. Frau Ludwig scheint mir mehr von der ersten Gruppe zu reden, Herr Lachenmann mehr von der zweiten. Ich würde über die eine wie über die andere gerne mitreden, bin aber derzeit woanders sehr gefordert und bitte um Nachsicht.
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Jörg Metes

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Elke Philburn
24.04.2002 15.05
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Die Art und Weise, wie z. B. in Großbritannien die Rechtschreibreform eingeführt wurde, war recht überzeugend: Heller tourte durch die Goethe-Institute und hielt Vorträge vor Lehrern und Dozenten mit anschließender Diskussion.

Der Eindruck war ganz klar, daß die neue Rechtschreibung kommt und daß Schüler und Studenten davon profitieren würden. Daß das Goethe-Institut eine Vorreiterrolle einnahm und zum frühestmöglichen Termin umstellte, erschien nur sinnvoll, denn man hätte ja mit der 'alten' Schreibung den Kursteilnehmern etwas beigebracht, das sie sich nach einigen Jahren doch wieder hätten abgewöhnen müssen. Davon abgesehen gab die Unterstützung durch das Goethe-Institut der Reform Glaubwürdigkeit.

Das Vertrauen in die leichte Erlernbarkeit der Reformschreibung, (wir bekamen diverse ansprechend gestaltete Materialien ausgehändigt), war so groß, daß man darüber diskutierte, ob die Schüler/Studenten die 'zwei Systeme' miteinander vermischen dürften oder nicht. Als ginge es um nicht mehr als die s-Schreibung und eine Handvoll neuer Wörter.

Klar, daß der Eindruck entstand, man müsse das schon irgendwie 'mitmachen', und sei es nur, um auf dem vermeintlich neuesten Stand zu sein. Seinen Irrtum einzusehen ist dagegen gar nicht schwer, wenn man sich mit den Fakten auseinandersetzt. Vorwürfe bringen hier eher wenig.

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Walter Lachenmann
24.04.2002 13.49
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Nicht übers Ziel hinausschießen!

Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus. Den meisten Menschen ist doch gar nicht bewußt, daß es sich hier um einen Fall handelt, bei dem es um Zivilcourage ginge, um einen ziemlich geringen Grad von Zivilcourage zumal, denn das Risiko, das man dabei eingeht, pendelt sich bei Null ein.
Deswegen verstören mich manche Töne der Reformkritiker einigermaßen, sofern sie sich nicht direkt an die Verantwortlichen der Reform wenden – die verdienen jede, auch lautstarke Kritik.
Aber mit dem Vorwurf der mangelnden Zivilcourage, der »political correctness« (das hat sich als Kritikpunkt ja auch völlig vernutzt und wird von Hinz und Kunz in absoluter Beliebigkeitsschreibung bzw. -verwendung hin und her gereicht) und dergleichen trifft man das Problem der bereitwilligen Hinnahme der Reform in der Öffentlichkeit höchst unzureichend, tut vielen Leuten Unrecht und verprellt sie, anstatt sie auf die Fragwürdigkeit hinzuweisen und auf sie einzuwirken, damit sie sensibel werden für das Thema und in ihrem unmittelbaren Bereich bei der traditionellen Orthographie bleiben.
Ich persönlich habe damit keine schlechten Erfahrungen gemacht, und zum Beispiel für zwei Bücher, die ich im Auftrag von Kunden zu produzieren hatte, die neue Rechtscheibung verhindert. Das eine ist ein auf den Tourismus zugeschnittener Bildband über den Tegernsee, initiiert von den Bürgermeistern der Gemeinden des Tegernseer Tales, die von Amts wegen die reformierte Orthographie gewählt hätten. Ich habe es dem Autor ausgeredet. Dasselbe ist mir bei einem Buch gelungen, das die Tegernseebahn zum 100. Jubiläum des Bahnhofes Tegernsee bei mir in Auftrag gegeben hat. Es war überhaupt kein Problem, auch hier die herkömmliche Orthographie durchzusetzen, obgleich der Konzern, zu dem diese Bahn gehört, ansonsten alles in reformierter Orthographie hält (Korrespondenz, Geschäftsberichte, Werbung usw.). »Ach so, wenn man das darf, sehr gerne!«, war die Reaktion.
Es braucht also oft nur eine gar nicht allzu intensive Ermunterung an die Leute, von ihrem gesunden Menschenverstand Gebrauch zu machen. Die Töne der Empörung und Appelle an Moral und Zivilcourage, Bezüge zu übergeordneten ideologischen Kontexten usw. werden eher nicht verstanden und als überkandidelt empfunden, womit die Reformkritiker in den Geruch der Spinner zu geraten drohen (öfter als berechtigt, sollte man vielleicht sagen) und die substantielle Kritik, die die meisten Leute so genau ja gar nicht interessiert und die sie auch nur bedingt nachvollziehen können, droht durch Bekundungen von übersteigertem Kämpfertum, für den viele den Anlaß für zu unbedeutend erachten, völlig zu verpuffen.
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Walter Lachenmann

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Claudia Ludwig
24.04.2002 11.49
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Sehr geehrter Herr Lachenmann,

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: die fehlende Zivilcourage von Menschen in Entscheidungspositionen und die heute völlig fehlende Bereitschaft, sich für andere Dinge einzusetzen als für Macht und Geld.

Das eben ist es, was mich so maßlos enttäuscht. Niemand mußte die „Reform“ umsetzen – außer Schulen und Behörden natürlich – aber alle haben es getan.

Hätten sich die Verlage, die Unternehmen, die Agenturen u.a. nicht umgestellt, wäre die „Reform“ von heute auf morgen vom Tisch gewesen. Aber sie alle witterten Geld: Schulbücher müssen neu gedruckt werden, Eltern kaufen neue Kinderbücher – ihre „alten“ können sie ja nicht mehr vererben – Wörterbücher braucht man ohne Ende, neue Computerprogramme und und und. Da winken Dollars über Dollars.

Daß dabei die Kinder völlig vergessen werden, und daß es völlig egal ist, wieviel Aufwand und Streß die Reform anderen bringt, liegt ja auf der Hand.

Wenn aber schon bei einer so „unwichtigen“ Sache der Widerstand praktisch nicht vorhanden ist, wo soll er dann bei einer großen, lebenswichtigen Sache so plötzlich herkommen?

Für mich ist die hier zu beobachtende „Political Correctness“ erschreckend und läßt mich Schlimmeres ahnen. Oder haben Sie schon erlebt, daß Menschen, die sich immer anpassen und immer mitmachen, um nicht aufzufallen oder angefeindet zu werden, plötzlich, wenn es um Einsatz und Mut geht, in der ersten Reihe stehen?

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Claudia Ludwig

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Walter Lachenmann
24.04.2002 08.19
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Glockenläuten

Zum Orthographiethema gehört das nicht, aber zum Thema Gruppendynamik und Schweigespirale. Hierzu bin ich auf folgenden Text gestoßen:

Bei der von der Hitler-Regierung auf den 12. November 1933 festgesetzten Neuwahl des Reichstags demonstrierte die Kirchenleitung gleichfalls begeisterte nationale Solidarität. Am 9. November 1933 teilte der Oberkirchenrat dem Württembergischen Staatsministerium in einem Schreiben mit:
Am 12. November dieses Jahres ist das ganze deutsche Volk aufgerufen, sich mit seiner Regierung zu einer Politik des Friedens, der Ehre und der Verständigung zu bekennen. Um diesem Bekenntnis seitens der evangelischen Kirche besonderen Ausdruck zu geben, haben wir angeordnet, daß am Vorabend des 12. November, also am Samstag, 11. November, von 6.50 Uhr bis 7 Uhr abends in den evangelischen Kirchen mit allen Glocken geläutet wird. (Hauptstaatsarchiv Stuttgart: E130b Bü 145)
Monatelang schwieg die Landeskirche zu Unrecht und Gewalt. Die Verfolgung politischer und ideologischer Gegner des Regimes blieb niemand verborgen, doch die führenden kirchlichen Repräsentanten nahmen sie wie selbstverständlich hin. Selbst die Evangelischen Arbeitervereine, die der Leiter der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront Dr. Robert Ley im April 1933 als Reichsfeind Nr. 1 bezeichnet hatte, blieben auf sich allein gestellt, bis sie gewaltsam gleichgeschaltet wurden.
Aus: Gerhard Schäfer, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus – Eine Dokumentation zum Kirchenkampf. Bd. 1. Um das politische Engagement der Kirche 1932 – 1933. Calwer Verlag, Stuttgart 1971.

Dies soll nur als Beispiel dienen, für Situationen, wo Gruppendynamik und Schweigespirale eine so viel dramatischere Dimension haben, als bei unserem Thema. Die im Vergleich hierzu geringe Dimension könnte zwar bedeuten, daß der Widerstand gegen eine eindeutig als falsch oder schlecht erkannte staatliche Maßnahme leichter fällt, andererseits aber auch nicht der Mühe wert erscheint, da es ja um nichts Großartiges geht. So oder so, der Weg des geringsten Widerstandes ist naturgemäß der am meisten beschrittene, wen wundert's? Immerhin haben uns die Kirchen bei der Einführung der Rechtschreibreform das Glockenläuten erspart.

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Walter Lachenmann

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Walter Lachenmann
23.04.2002 16.08
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Gruppenkonsens?

Einerseits gibt es die Wahrheit, andererseits gibt es den Konsens darüber, daß man so tut, als gebe es sie nicht. Dem einzelnen verursacht das ein gewisses Unbehagen, aber noch unbehaglicher wird ihm bei der Vorstellung, er müßte den Gruppenkonsens öffentlich aufkündigen.

Bei unserem Thema kommt erschwerend hinzu, daß die meisten Leute es für ziemlich unbedeutend halten, sie sich auch nicht für kompetent erachten, darüber wirklich zu urteilen. Die Ablehnung ist weitgehend eine gefühlsmäßige, das geht aus vielen Meinungsäußerungen hervor: Für mich ist das nichts, aber die Kinder werden damit schon leben.

Ich kenne mehrere Firmen und kulturelle Institutionen, mit deren Leitern man in völliger Übereinstimmung über den Unfug der Reform lästern kann – deren Schriftstücke aber nichtsdestoweniger in reformierter Orthographie erscheinen. Das ist, soweit ich sehe, keine Feigheit oder übertriebener Untertanengeist, sondern die reine Bequemlichkeit. Diese Leute müßten aktiv werden, eine anderweitig getroffene Entscheidung, an der sie selbst vielleicht gar nicht beteiligt waren und die ihnen von minderer Wichtigkeit erscheint, aktiv rückgängig machen und dies begründen. Dazu sehen sich viele einerseits nicht in der Lage, denn es reicht ja nicht, die Reformorthographie nicht zu mögen, sondern für eine Rücknahme solcher Grundsatzentscheidungen in größeren Organisationen muß ein Entscheidungsprozeß neu angeleiert und die Absicht substantiell begründet werden. Wer ist aber in diesem Gebiet schon so sattelfest, daß er die interne Rücknahme wirklich überzeugend begründen könnte? So scheint vielen, die die Reformorthographie gefühlsmäßig ablehnen, der Diskussionsaufwand für eine Rückgängigmachung einer solchen Anweisung nicht gerechtfertigt, und man läßt die Sache laufen.
Das Problem ist eben, daß es in den Augen vieler Leute kein »wichtiges« Problem ist. Da ist es denn auch problematisch, von Herdenmentalität, Duckmäusertum usw. zu reden. Mir ist es zum Beispiel völlig egal, ob man zum Salat diesen oder jenen Essig nimmt, obwohl für Experten dies einen riesigen Unterschied machen mag. Den einen mag ich zwar lieber, aber wenn man den andern nimmt, kann ich den Salat auch essen. Für den besseren Essig würde ich keinen bekennerischen Aufwand treiben wollen. So erleben viele Leute das Problem mit der Rechtschreibung.


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Walter Lachenmann

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Theodor Ickler
18.04.2002 13.01
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Verbreitete Ablehnung

Aus der E-Mail eines sehr namhaften Schriftstellers und Journalisten:

"... schönsten Dank dafür, daß Sie bei der Aussendung Ihres Kommentars zum dritten Bericht der Rechtschreibkommission an mich gedacht haben. Ich kenne bereits alle Ihre in der jüngeren Vergangenheit in der FAZ gedruckten Beiträge zum Thema, denen ich in allen Punkten enthusiastisch zustimme.
Leider gibt es immer noch Idioten genug, die uns daran hindern möchten, einen klaren Blick auf unsere Schreibung, und erst recht auf unsere schöne Sprache selbst zu richten.
Ich wäre dankbar, wenn Sie mich auch bei künftigen Gelegenheiten berücksichtigen würden.
Mit den besten Grüßen
...“

(18.4.2002)
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Th. Ickler

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Elke Philburn
17.04.2002 19.04
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Zitat:
Genauer als Frau Ludwig kann man es nicht formulieren.

*mich anschließ*

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Theodor Ickler
17.04.2002 13.43
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Das ist die Frage

Genauer als Frau Ludwig kann man es nicht formulieren. Mit dieser Erfahrung leben wir nun schon seit Jahren. Wenn ich mit Lehrern zusammen Staatsexamen abnehme, sprechen sie mich unweigerlich an und verdammen die RSR; und zwar ausnahmslos. Trotzdem können die Mannheimer unwidersprochen behaupten, an den Schulen laufe alles problemlos usw. Mit der „Schweigespirale“, soweit ich mich an das Buch erinnere, ist wohl einiges zu erklären.
Mit der wohlgeplanten Überrumpelungstaktik ist etwas in die Welt gesetzt, was sich – wenigstens in Deutschland – kaum noch stoppen läßt. Und wenn erst einmal sehr viele sich durch Mitmachen oder Dulden kompromittiert haben, wäre ein offenes Eingeständnis des Irrtums wohl noch peinlicher als das gegenwärtige „Augen zu und durch!“.
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Th. Ickler

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Claudia Ludwig
17.04.2002 12.47
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Sehr geehrter Herr Metes,

zu Ihrem Thema gibt es noch ein anderes interessantes Buch, das ich zur Zeit für mich entdecke:
Elisabeth Noelle-Neumann: „Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut“, Langen Müller Verlag (übrigens auch in neuester Auflage in klassischer Rechtschreibung!)

Meine Erfahrungen zum Thema „Rechtschreibreform“ sind unglaublich: hinter vorgehaltener Hand geben mir alle recht, vom CDU-Mitglied, über den Unternehmensvorsitzenden, die Sekretärin, den Bankangestellten, das FDP-Mitglied bis hin zum SPD-Bürgerschaftsabgeordneten. Niemand aber ist bereit, seine Meinung öffentlich und laut zu verkünden. Was um Himmels willen ist hier los?
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Claudia Ludwig

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Norbert Schäbler
15.04.2002 20.08
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Einspruch

Ihr Einspruch, lieber Herr Lindenthal, ist rechtens.
Meiner auch.

Ich lege Wert darauf, daß im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform eine Überparteilichkeit gesichert ist. Die war schon einmal: Lüft (PDS), Hafner (Grüne), Bastian (CDU), Geis (CSU), Westerwelle (FDP) – wenn ich jemanden vergessen haben sollte, bitte ich um Entschuldigung.

Gegen verdeckte Schleichwerbung – auch ich habe sie oben praktiziert – trete ich an. Es darf keine Meinungsführerschaft geben auf diesem sachlichen Gebiet – ebensowenig darf es zu Nachlässigkeiten kommen – und deswegen nenne ich im nachhinein auch die Republikaner des Landtages in Baden-Württemberg; die SPD lasse ich weg. Die haben Sie über Gebühr in anderem Zusammenhang hervorgehoben.

Es geht bei der Rechtschreibreform um ein Sachthema, und ich bitte darum, dieses Thema von sämtlicher Ideologie freizuhalten.
Liebe zur Sprache ist keine Ideologie!

Wenden wir uns doch lieber den wertfreien Äußerungen von Herrn Metes zu!
Ich denke, die Buchempfehlung hat was.


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nos

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